Geschwindigkeit vor Perfektion
Geschwindigkeit vor Perfektion
Ein ungewohnter und beinahe unbemerkter Prioritätenwechsel der Verwaltung während der Corona-Pandemie
Im letzten Jahr meiner langen Kammertätigkeit habe ich u.a. eine Abteilung geleitet, die sich mit den Corona-Finanzierungshilfen der Stadt für die Unternehmen beschäftigt hat. Es wurden Zuschuss- und Kreditprogramme aus dem Boden gestampft und Gebühren temporär erlassen. Alles war mit der heißen Nadel gestrickt, weil diese Pandemie sich nicht anständig angemeldet hatte.
“Die Priorität Perfektion wurde durch Geschwindigkeit ersetzt.”
Regelmäßig hatten meine Kolleginnen und Kollegen und ich Unternehmer am Telefon oder in virtuellen Veranstaltungen, die sich über die nicht fehlerfreien Prozesse bei der Antragstellung und Auszahlung beschwert haben. Durchaus verständlich, weil es bei vielen von ihnen um die nackte Existenz ging und sie dringend auf das Geld angewiesen waren. Gerade in der Hotellerie, Gastronomie und Veranstaltungswirtschaft drohte die Insolvenz. Wann immer wir von den Unternehmen auf Fehler im System hingewiesen wurden, haben wir sie über unseren Bundesverband an die Bundesministerien und direkt mit den zuständigen Stellen der Stadt besprochen. In der Hochphase haben wir jede Woche Verbesserungsvorschläge verschickt oder besprochen. Es war hektisch. Parallel dazu fand ein fast unbemerkter Prioritätenwechsel in der Verwaltung statt. In der Verwaltung, die bislang für perfekt funktionierende Prozesse bekannt war. Und auch für deren entsprechende Dauer bei deren Ausgestaltung. Perfektion benötigt eben Zeit in der Vorbereitung. Doch nun war es anders: Die Priorität Perfektion wurde durch Geschwindigkeit ersetzt. Erstmals.
Nur ein notgedrungenes Experiment oder das neue Normal?
Die Priorisierung der Geschwindigkeit hat in der Praxis dazu geführt, dass die Corona-Finanzierungshilfen recht schnell für die Unternehmen verfügbar waren. Aber auch dazu, dass sie im laufenden Prozess mehrfach angepasst werden mussten. Und dafür gab es große Bereitschaft in der Verwaltung. Sie hat sich auf Landes- und Bundesebene unsere Rückmeldungen angehört und diese Prozesse im Livebetrieb stetig angepasst.
“Was nutzt Ihnen ein perfekter Prozess zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie vielleicht schon insolvent sind?”
Aber die Beschwerdeanrufe der Unternehmen rissen nicht ab. Irgendwann bin ich dazu übergegangen und habe den Prioritätenwechsel in der Verwaltung offen angesprochen: “Die Verwaltung hat die Geschwindigkeit bei den Corona-Finanzierungshilfen priorisiert und darunter leidet am Anfang die Perfektion des Prozesses. Aber was nutzt Ihnen ein perfekter Prozess zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie vielleicht schon insolvent sind?” Stille am anderen Ende der Leitung. Dann einsetzendes Verständnis und mein Versprechen, dass die berechtigte Kritik aufgenommen und weitergeleitet wird. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Prozess angepasst. Die Prozesse wurden mit jeder Schleife um die entdeckten Fehler bereinigt.
Vom Wasserfall zu agilen Prinzipien — Mehr davon!
Was war passiert? Ohne große öffentliche Wahrnehmung hatte sich die tradierte Arbeitsmethode des Wasserfall-Projektmanagements in der Verwaltung zugunsten agiler Prinzipien verändert. Das nenne ich eine Zeitenwende! Beim Projektmanagement nach dem Wasserfall-Prinzip werden verschiedenen Phasen nacheinander ausgerollt, bearbeitet und abgeschlossen. Bevor Phase 1 nicht erledigt ist, fängt die zweite Phase nicht an. Wenn Phase 1 sich verzögert, verschiebt sich auch Phase 2. Statt der Fortführung dieses Jahrzehnte lang praktizierten Verfahrens, das zudem die Basis der Ausbildung aller Verwaltungsangestellten ist, ergab sich zu Beginn der Pandemie ein Livebetrieb der Corona-Finanzierungshilfen, der manchmal mehr mit dem aus der Softwarebranche bekannten “minimal viable product” zu tun hatte, als mit der aus der Verwaltung gewohnten Verfahrensperfektion. Das Arbeiten auf Basis agiler Prinzipien bedeutet, dass man eine starke Kundenausrichtung hat, das man Anforderungen dieser Kunden sogar noch im laufenden Prozess willkommen heißt und vor allem in kleinen Iterationsschleifen, also Prozessgliedern mit sich wiederholenden Handlungen, agiert. Genau in diesen Schleifen sind die Rückmeldungen der Kunden, also unserer Unternehmen eingeflossen. Und mit der nächsten Schleife wurde die Beantragung oder Auszahlung der Hilfen verbessert. Man kann die Bedeutung dieser pragmatischen Vorgehensweise nicht überschätzen! Natürlich war der Rahmen so fordernd, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und natürlich ist dies kein Plädoyer dafür, dass die Verwaltung sämtliche Verfahren auf agile Prinzipien umstellt. Aber in einer Zeit, in der immer mehr komplexe (und nicht mehr nur kausale) Fragestellungen und Herausforderungen auftreten, ist es wichtig eine Alternative zur Projektplanung nach dem Wasserfall-Prinzip zur Hand zu haben. Eine Alternative, in der die Verwaltungsmitarbeitenden erste Erfahrungen gesammelt haben und positive Rückmeldungen zu deren Einsatz brauchen. In dieser neuen Herangehensweise stecken große Chancen für Bürger und Unternehmen. Daher: Mehr davon! Und zwar immer dann, wenn es noch kein Wissen für das vorliegende Problem gibt. Wenn das Problem noch nie zuvor gelöst wurde. Dann kann es auch kein Rezept dafür geben. Denn für ein Rezept braucht man jemanden, der genau diese Situation erlebt, erfolgreich bewältigt hat und es dann in einem Rezept zum “Nachkochen” niedergeschrieben hat. Demnach funktioniert dann auch kein Wasserfall-Prinzip mit vordefinierten Prozessschritten. Denn dafür braucht man nämlich Wissen. Stattdessen braucht man eine Kultur, die kleine Fehler, besser Irrtümer, erlaubt, ein Umfeld, das mit einem zu Beginn nicht perfekten Prozess klar kommt, und eine Öffentlichkeit, die den Mut des “konstruktiven Voranirrens” wertschätzt. Ich weiß, wie ungewohnt dieser Prinzipienwechsel mit Blick auf die Verwaltung klingt. Und für viele Unternehmen ist das erst recht ungewohnt. Ich bin aber davon überzeugt, dass Situationen wie die Corona-Pandemie oder der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine uns mit einer gewissen Regelmäßigkeit herausfordern werden. Und für diese Fälle würde ich mich sehr freuen, wenn unsere Verwaltung mehrere Arbeitsprinzipien in der Anwendung erlernt hat und diese anlassbezogen einsetzen kann. So etwas wie ein duales Betriebssystem.
Seit fast 20 Jahren arbeite ich an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Früher war ich als Sprachrohr für Unternehmen gegenüber der Verwaltung aktiv. Nun befähige ich Organisationen im Umgang mit zunehmender Dynamik. Wenn Sie Interesse daran haben, Ihre Abteilung, Ihren Bereich oder Ihr Amt in der Verwaltung zukunftsfähig aufzustellen, sprechen Sie mich gerne an!
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